Das Mädchen und der Star
Überreden gilt nicht
„Eigentlich möchte ich da nicht hin“, entgegne ich Lucy. „Ich kenne diesen Sänger nicht und wenn ich’s mir recht überlege, habe ich schon etwas anderes vor.“
Jedenfalls hypothetisch gesehen.
Ich denke nicht, dass meine Ausrede sonderlich überzeugend wirkt, aber versuchen kann man es ja mal.
„Doch, du gehst!“
Lucy legt mir die Einladung vor die Nase auf den Tisch. Ich werde wieder weichgeklopft, wie so oft. Das geht bei mir völlig problemlos. Mein Schicksal scheint besiegelt.
Lucy hatte an einem Gewinnspiel teilgenommen, bei dem der Hauptgewinn dieser Sänger war – genaugenommen ein gemeinsames Essen mit ihm. Sie hat tatsächlich gewonnen, aber nun keine Zeit, den Termin wahrzunehmen, da ihr Chef sie nach Deutschland beordert hat. Sie soll dort einen Vortrag am archäologischen Institut Hamburg über die Methoden der Archäologie halten. Lucy ist Archäologin und hat schon viel ausgegraben. Ein wirklich interessanter Beruf. Er ist ein bisschen artverwandt mit meinem. Ich bin Völkerkundlerin.
Genetisch betrachtet bin ich ein halber Inuit – andere sagen Eskimo. Mein Vater ist Inuit, doch äußerlich bin ich das Ebenbild meiner schwedischen Mutter. Ihre blauen Augen und das fast silbern glänzende Haar haben sich bei mir vollends durchgesetzt. Aus mir wurde ein Mischling, der nicht gemischt aussieht. Nur der ausgeprägte Zartbitterschokoladenteint meines Vaters verwandelte meinen Hautton in einen dezenten Vollmilchteint. Ich bin also eine Vollmilchschwedin. Dafür habe ich das Temperament meines Vaters geerbt. Ich bin so unterhaltsam wie eine Schlaftablette: ruhig und in mich gekehrt. Am liebsten sitze ich auf einem Eisblock und schaue aufs arktische Meer.
Seitdem ich in New York lebe, sehe ich ab und zu aus dem Fenster. Mein bester Freund ist mein Computer, denn ich schreibe viel. Im September veröffentliche ich erneut ein Buch – das fünfte an der Zahl. Da ich Völkerkundlerin bin, liegt es natürlich nahe, worüber ich schreibe. Viermal bereits habe ich mich für einige Zeit einem Indianervolk angeschlossen, dessen Kultur und Lebensart beobachtet und mit den Menschen eines Stammes zusammengelebt. Für einen scheuen Menschen wie mich eine Herausforderung und auch Überwindung.
Die Ureinwohner Australiens faszinieren mich enorm. Leider leben auch sie – ebenso wie die Indianer Nordamerikas – in Reservationen. Ich schloss mich einem kleinen Stamm der Aranda an und lebte gut fünf Monate unter ihnen in der Wüste Australiens. Es war eine aufregende Zeit – unvergesslich. Meine Erlebnisse und Erfahrungen schrieb ich in meinem letzten Buch nieder. Es kommt in zwei Monaten auf den Markt.
Ich will die Missstände mit meinen Büchern an die Öffentlichkeit bringen, informieren und Verständnis aller Völker für andere Völker gewinnen. Das ist mein Ziel. Warum ich mich dafür ausspreche? Vielleicht, weil ich in einer Welt aufgewachsen bin, die anders war, in der meine Hautfarbe zu einem Problem wurde.
„Hör zu, Malina“, redet Lucy auf mich ein, „ist dir denn nicht klar, wer dieser Danny ist?“
Im Grunde ... nein.
Ich schaue Lucy unschuldig in die Augen.
„Er könnte die Inkarnation von John Lennon sein und du würdest es nicht wissen, nicht wahr?“
Wäre möglich.
„Wie auch immer, einer muss dorthin. Und da ich ausgerechnet an diesem Tag was anderes zu tun habe, bleibst nur du übrig. Glaub mir, er ist ein wahrer Traummann.“
Sie hält sich das Foto von Mr. Greyeyes an die Brust und tanzt verträumt durch den Raum. Wenn ich ihre Freude bloß teilen könnte. Aber man kann von mir nicht gerade behaupten, ich wäre besonders begeisterungsfähig. Lucy würde ich eher mit einem tobenden Fluss vergleichen, während ich der stille und starre See bin. Mein Enthusiasmus hält sich für gewöhnlich in Grenzen. Vor allem, wenn es sich um Rocksänger handelt, die ich nicht kenne und mit denen ich gegen meinen erklärten Willen essen gehen muss.
Das kleine Dorf in Grönland, in dem ich aufgewachsen bin, war so abgeschieden, dass mir die halbe westliche Welt fremd war. Nachdem ich Grönland verlassen hatte, führte sich etwas fort, was bereits in meiner Kindheit begonnen hatte: das Gefühl, fremdartig zu sein.
Mein Problem seit meiner Geburt war, ein Mischling zu sein, ein Mischling, der nicht wie einer aussah, sondern eher wie jemand von einem anderen Stern. Meinem älteren Bruder Namid beschied das Schicksal mehr Glück. Unser Vater hatte bei seiner Zeugung alles gegeben und ein fast vollständiges Abbild seiner selbst produziert.
So viel zu meinem Problem. Warum das ein Problem war?
Kinder können grausam sein. Namid nahm seine Rolle als älterer Bruder sehr ernst und verprügelte regelmäßig unsere Mitschüler, um mich vor ihren Hänseleien zu schützen. Mein europäisches Aussehen passte nicht in diese Gegend, ich passte irgendwie nicht dorthin. Jedenfalls fühlte es sich so an.
Zum Glück musste ich nicht ewig zur Schule gehen – nicht in diese. Als mein Bruder und ich alt genug waren, zeigte unser Vater uns überlebenswichtige Tricks, spannte unsere Hunde vor den Schlitten und durchzog mit uns ein paar Tage die arktische Eiswüste. Wir lernten, wie man Schneehütten baut und Robben jagt. Die Ausflüge in den ewigen Schnee und die eisige Welt der Gletscher mit meinem Vater bleiben in meiner Erinnerung unauslöschlich. Die Einsamkeit, der Wind, die Sonne; heute noch verspüre ich die Verbundenheit mit der ungezähmten Natur des Nordens.
Ich lernte früh, mich in der rauen Landschaft allein zurechtzufinden. Gleichzeitig hatten – aufgrund fehlender Möglichkeiten – meine charakterlichen Schwächen alle Zeit der Welt, sich zu multiplizieren. Die Einsamkeit schenkte mir Isolation und gehörte zu mir wie ein Körperteil. Die einzige Freundin, die ich mir erarbeitet hatte, schnappte sich meinen einzigen Freund nach sieben gemeinsamen Jahren. Sie sind heute verheiratet.
Kurz nach der Schmach, meinen ersten und bis heute einzigen Freund eingebüßt zu haben, noch dazu an meine beste Freundin, verließ ich meine Heimat. Ich wollte studieren und aufbrechen in die große Welt. Also ging ich nach New York.
Während des Studiums lernte ich meine heute beste Freundin Lucy kennen. Obwohl ich eine Art „Beste-Freundin-Trauma“ entwickelt hatte, wagte ich das „Freundin-Risiko“ erneut. Bis heute ist alles bestens gelaufen mit Lucy, aber ich hatte ja auch noch keinen neuen Freund. Die letzten fünf Jahre war ich ohne nennenswerte männliche Begleitung.
Lucy und ich wohnen zusammen und teilen uns eine hübsche Drei-Zimmer-Wohnung. Sie ist ständig unterwegs auf irgendwelchen Tagungen oder Ausgrabungen. Doch nun zwingt sie mich zu diesem Treffen mit einem Rockstar oder Star gleich welcher Art, was meinen Seelenfrieden gehörig durcheinanderwirbelt. Schließlich möchte ich bloß in Ruhe und Frieden in meiner Höhle Bücher schreiben. Mein Musikgeschmack hinkt dem Zeitgeist hinterher. Habe ich überhaupt einen? Wenn ich ehrlich bin, weiß ich kaum, was gerade so „in“ ist auf dem Musikmarkt. Ich höre keine Musik. Was ist Musik? Falls Lucy mal zu Hause ist, höre ich ihr Gedudel unfreiwillig mit. Mag sein, dass dieser Sänger da mal mit von der Partie war. Wie hieß er doch gleich? Danny Greyeyes. Ich soll mich mit Danny Greyeyes treffen. Browneyes wären mir lieber.
„Malina, du musst mir unbedingt alles genau erzählen, hörst du? Nimm am besten eine Kamera mit und mach dir Notizen, damit du nichts vergisst!“
„Ich soll ihn fotografieren? Das ist mir zu doof.“
„Natürlich wirst du Fotos machen. Jeder Fan würde das.“
Bin ich etwa ein Fan?
„Außerdem solltest du unbedingt ein paar Lieder von ihm hören, damit du weißt, um wen es geht.“
Lucy läuft zu ihrem CD-Ständer und zieht drei Scheiben aus dem Regal. Sie kommt auf mich zu und drückt sie mir in den Bauch.
„Hier, hören und die Titel auswendig lernen, klar?“
Klar.
„Muss ich wirklich da hin? Ich meine, kennst du keine andere, die sich darüber freuen würde? Warum gerade ich?“
Lucy lacht herzerfrischend und wuselt mir durchs Haar.
„Sicher doch, aber du bist genau die Richtige dafür.“
Ich? Wieso?
„Außerdem treibst du dich zu viel mit irgendwelchen Buschmännern herum, statt das wahre Leben kennenzulernen.“
Das wahre Leben findet also auf der Bühne eines Rockstars statt?
Freiwilliger Zwang
Lucy ist in Hamburg. Sie bearbeitete mich noch einen Tag und eine halbe Nacht, bevor sie die Wohnung mit ihrem Koffer verließ. Das wäre nicht mehr nötig gewesen, denn ich hätte ohnehin nicht gewagt, mich ihrem Willen zu widersetzen. Wenn Lucy beschließt, dass ich Mr. Greyeyes treffen soll, dann mache ich das – ob ich das will oder nicht.
Ich sitze auf dem Sofa und höre Dannys Musik. Sie gefällt mir – etwas rockig und doch sanft. Mein Zeigefinger rührt in meinem Haar herum und sucht nach einer geeigneten Strähne, die er umwickeln kann. Der Finger ist zu kurz. Das Haar rollt sich doppelt und dreifach um ihn herum, solange, bis er nicht mehr zu sehen ist. Müsste das Haar mal wieder kürzen. Oder längere Finger …?
Das Telefon reißt mich aus meiner Lethargie.
„Hallo, sind Sie Miss Lucy Atkinson?“, hallt mir eine hohle Stimme aus dem Hörer direkt in den Gehörgang.
„Nein, die ist nicht da. Mein Name ist Malina Bergstroem. Kann ich Ihnen weiterhelfen?“
Stille. Knacken. Rascheln. Geflüster.
„Wissen Sie, wann sie wieder zu erreichen ist?“
„Erst in drei Tagen“, erwidere ich. „Worum geht es denn, mit wem spreche ich überhaupt?“
Stille. Rascheln. Knacken. Geflüster.
„Mein Name ist Adam Fox. Ich bin Danny Greyeyes’ Manager. Miss Atkinson hat unseres Wissens den Hauptpreis gewonnen: ein Abendessen mit Danny. Wissen Sie etwas darüber? Ich wollte die weiteren Formalitäten mit ihr absprechen.“
„Ähm, nun ja, die werden Sie wohl mit mir absprechen müssen. Miss Atkinson hat mir ihren Gewinn abgetreten.“
Stille. Rascheln. Knacken. Geflüster.
„Also gut. Verraten Sie mir dann Ihren Namen?“
„Malina Bergstroem heiße ich.“
Ich spüre meinen Pulsschlag überall. Eigentlich will ich das nicht machen, aber könnte ich Lucy enttäuschen oder irgendeinen anderen Menschen außer mich selbst? Mich enttäusche ich pausenlos, weil ich es nie schaffe, meinen eigenen Willen durchzusetzen. Ich lasse mir lieber einen fremden aufdrücken – ist einfacher.
Mr. Adam Fox erklärt mir den Ablauf des Zusammentreffens mit Danny Greyeyes: wann ich was zu sagen und wie ich in die Kamera zu schauen habe. Welche Antworten ich beim Interview mit dem Star-Magazin geben müsste und welche Kleidung ich vorzugsweise tragen sollte.
„Seien Sie pünktlich, Miss Bergstroem. Morgen um fünfzehn Uhr in den Studios der Plattenfirma Megastar.“
Schon morgen? Können wir das Ganze nicht auf nächste Woche verschieben? Oder nächstes Jahr?
„Ja“, höre ich mich leise ins Telefon murmeln.
Na prima!
Den folgenden Tag beginne ich mit unruhigem Herumlaufen in der Wohnung. An Frühstück ist nicht zu denken. Wohin sollte ich es essen? Mein Magen ist weg – in die Kniekehlen gerutscht. Der Kleiderschrank spuckt keine geeigneten Klamotten aus. Das übliche Problem von Frauen. Seit wann bin ich eine übliche Frau? Ich tapse in Lucys Zimmer und durchwühle ihren Kleiderschrank: ein Kleid, schwarz, kurz, Spaghettiträger – dezent, aber kleidend. Nehme ich!
Das Telefon klingelt: Lucy!
„Hey, Malina, denk nicht mal daran, den Termin zu versäumen! Und vergiss die Kamera nicht! Ich beneide dich so.“
Danke, mir geht’s gut und dir?
„Dann komm doch her und geh da selbst hin! Ich springe für dich in Hamburg ein.“
„Ach, Malina, wenn das ginge, sofort. Aber ich gönne es dir.“
Oh, wie rührend. Warum gönne ich es mir selbst nur nicht?
Ich erzähle Lucy von dem Gespräch mit Mr. Adam Fox und dem geplanten Tagesablauf: Fotoshootings, Interviews, erneutes Posieren für die Kameras mit Danny Greyeyes und das ersehnte Dinner in trauter Zweisamkeit ohne Kameras und Zeugen. Was rede ich bloß mit ihm? Hoffentlich öffnet sich mein Mund zum Sprechen. Ich frage Lucy, über was man sich mit einem Rockstar unterhält. Sie lacht.
„Warum lässt du es nicht auf dich zukommen? Es wird sich schon ein Gespräch ergeben.“
Guter Tipp, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?
Nach dem Telefonat mit Lucy fühle ich mich nicht besser. Die Zeiger der Uhr scheinen einen Wettlauf gegeneinander zu führen. Die Zeit rast in einem Höllentempo – immer wenn man es nicht gebrauchen kann. Auf den letzten Drücker sause ich ins Bad und schmeiße mich unter die Dusche. Frisch, aber leider nicht als neuer Mensch, verlasse ich sie und widme mich Lucys Kleid. Es scheint zu passen. Mein widerspenstiges Haar föhne ich über Kopf trocken, während ich dabei ständig auf die Uhr sehe. Verflixt, ich muss los! Ich will da nicht hin! Ich will nicht!
Das soeben getrocknete Haar fliegt nun im hohen Bogen durch die Luft über meinen Kopf hinweg und landet in luftigen Wellen auf meinem Rücken. Schuhe. Wo sind die? Griff zur Handtasche. Jacke nicht nötig: warm draußen. Treppe runterflitzen, Auto finden und mit quietschenden Reifen losfahren. Mein Puls ist auf hundertachtzig.
Ohne es zu merken, komme ich dort an: bei Megastar. Meine Gedanken kreisen wild durcheinander und können sich nicht auf das Jetzt und Hier konzentrieren, daher fällt mir auch nicht auf, dass ich vorbeifahre – an Megastar. Verflixt noch mal, wo bin ich hier? Uups, die Ampel war rot! Was sage ich bloß, wie verhalte ich mich? Was ist, wenn die spitzkriegen, dass ich null Ahnung habe von Danny und seinen Greyeyes? Moment mal, war das nicht gerade das Gebäude von Megastar? Kehrtwendung. Lass mich gefälligst rein, ich hab’s eilig! Es hupt. Der Fahrer des hupenden Gefährts winkt mir zu. Ich winke zurück. Sah aus wie ein langer Mittelfinger. Affe!
Eine Parklücke direkt vor dem Gebäude. Gott sei Dank! Ich steige aus meinem Wagen aus und bemerke erst jetzt einen unbezwingbaren Menschenauflauf vorm Eingang. Wo wollen die alle hin? Offensichtlich gibt es kein Durchkommen durch diese Menschenansammlung. Kurz verweile ich bei der Menge und überlege mir einen Plan, schleunigst in das Gebäude zu kommen. Die Tür wird von zwei athletischen Wachmännern blockiert. Mir kommt der Gedanke, die Eingangstür brutal zu stürmen, die Menschen mit einem Boxhieb beiseitezuräumen und die Wächter der Pforte rüde niederzurennen. Bestimmt fällt mir noch was Besseres ein. Möglicherweise gibt es einen Hintereingang. Nur wo? Zweifelnd blicke ich mich um. Eine Einfahrt zu einem Hof hinter dem Gebäude. Das sind gute Voraussetzungen für einen Hintereingang. Unbemerkt setze ich mich von der Meute ab und schlendere unsichtbar den „Hinterweg zum Hinterhof“ hinab, um von hier aus zum vermeintlichen Hintereingang zu gelangen. Da, ich habe Recht! Hinterhoftür soeben ausfindig gemacht. Falls mich dahinter kein Bluthund mit fletschenden Zähnen und Riesenmaul erwartet, könnte es mir von hier aus gelingen, meinen Weg in das Gebäude zu Mr. Greyeyes fortzusetzen. Die Tür quietscht beim Öffnen wie ein Stück Kreide, das ungeschickt über die glatte Fläche einer Tafel gezogen wird. Ich muss mich schütteln.
Ich trete durch die Tür, die einem Portal zu einer Höhle ähnelt, und befinde mich in einem stockfinsteren Treppenhaus. Kein Hund in der Nähe.
Der Weg zu meinem Ziel wird von Metalltreppen geebnet. Das kann ich nicht sehen, aber der blecherne Widerhall meiner Schritte verrät es mir.
Ich höre jemanden von oben heruntertrapsen. Die Schritte gewinnen an Tempo. Plötzlich sehe ich sie: Die konturenlose Gestalt trapst wie ein D-Zug auf mich zu. Machtlos ahne ich, dass ein Ausweichen unmöglich ist. Die Gestalt bemerkt mich nicht und verringert auch nicht ihr Tempo. Ich bleibe stehen und halte mich krampfhaft am Geländer fest in der Hoffnung, einem Sturz somit entgegenzuwirken. Durch zusammengekniffene Augen spüre ich den Stoß der unvermeidbaren Kollision. Ein heftiger Schmerz am Kopf lässt mich erahnen, was gerade passiert: Die Gestalt und ich purzeln einige Metallstufen hinab.
„Um Gottes willen!“, ruft die Person, als wir nicht mehr weiterkullern und sie mit ihrem ganzen Körpergewicht auf mir liegt. Ich fühle mich eigenwillig geplättet – wie ein getrocknetes Feigenblatt zwischen den Seiten eines dicken Buches. Mein linker Fuß ist in einem umgeklappten Hosenbein verfangen. Meins kann es nicht sein, ich habe ein Kleid an. Mein rechter Arm scheint verdreht wie eine Kordel und berührt einen fremden Arm, der unter meinem Rücken verweilt und meinen Po berührt. Falls es eine Auflösung dieses Knotens gibt, hätte ich sie gerne gewusst.
Es kommt kein Wort über meine Lippen. Der erhitzte Atem der Gestalt durchwandert meinen Ausschnitt und gibt den appetitlichen Duft von Pizza und Knoblauch frei. Lange Haare kitzeln mir im Gesicht – sind auch nicht meine. Nun zieht die Gestalt ihren warmen Arm hinter meinem Rücken hervor und spricht zu mir.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Glaub schon.“
Aha, die Person scheint männlichen Ursprungs zu sein. Die Stimme hat’s verraten.
„Verdammt noch mal, das passt zu diesem Tag!“, ruft er verstimmt.
Besorgt versuche ich, mich auf meine Arme zu konzentrieren, als der Typ von mir abrückt. Den einen finde ich wieder, aber den anderen nicht. Im Dämmerlicht mache ich eine rechte Hand aus, die mir zugestreckt wird, und ich überlege, sie zu ergreifen. Wo ist mein rechter Arm? Alternativ halte ich der Hand meinen linken hin, den sie sogleich ergreift und mich auf die Füße hebt. Kurz darauf finde ich endlich den rechten Arm. Langsam kommt wieder Gefühl hinein. Ich spüre es kribbeln.
„Tut mir leid, ich hab dich nicht gesehen. Es ist aber auch verdammt dunkel in diesem Laden! Gibt’s hier denn verdammt noch mal kein Licht?!“
Verdammt scheint sein Lieblingswort zu sein.
„Sorry, aber ich muss dringend weiter. Hab nachher noch ein albernes Treffen mit ’ner Tussi, die ich nicht kenne. Wirklich alles okay mit dir?“
„Ja, danke.“
Die männliche Gestalt nickt und setzt ihren Weg nach unten fort, hält aber unerwartet inne und dreht sich zu mir um. Als hätte man den Stecker zu seiner Energieversorgung gezogen, steht er regungslos da und sieht stumm zu mir. Was schaut er so geheimnisvoll? Er kann doch bei dieser verdammten Dunkelheit sowieso nichts von mir erkennen. Nervös zappeln meine Finger an der Hand und springen gleich aus ihrer Verankerung. Sollte ich noch was sagen? Nein, jetzt geht er weiter.
Nach diesem heftigen Unfall erklimme ich die Stufen im Schneckengang, um somit einem möglichen Wiederholungssturz entgegenzuwirken. Im Falle des Falles gewinne ich mehr Zeit für die Berechnung eines Ausweichmanövers. Endlich erreiche ich einen hellen Flur. Von Weitem vernehme ich Stimmenwirrwarr in verschiedenen Tönen. Klingt wie ein Baum voller schimpfender Spatzen. Tippelnde Schritte nähern sich meinem Standort. Misstrauisch vor dem, was mich erwarten könnte, halte ich mich dicht an der Wand. Eine elegant gekleidete Frau tritt in mein Gesichtsfeld und tänzelt mir auf ihren Stöckelschuhen entgegen.
„Ach, da sind Sie ja!“, ruft sie mir zu.
Ich drehe mich um, schaue zu ihr zurück und zeige fragend mit dem Zeigefinger auf mich.
„Sie sind doch das Mädchen, das heute ihren großen Schwarm treffen darf? Miss Bergstroem?“
Das Mädchen! Hält die mich für ’nen Teeny?
„Ja, das bin ich.“
„Dann kommen Sie mal schnell! Los, husch, husch, husch! Wir müssen Sie noch stylen für das Fotoshooting mit Danny.“
Ach du meine Güte! Was machen die jetzt mit mir?
Sie ergreift meinen lädierten Arm und zerrt mich den Flur entlang. An Zimmer Nummer 21 bleiben wir stehen. Energisch drückt sie die leicht angelehnte Tür auf und ein Team von Stylisten und Friseuren stürmt auf mich zu. Alles plappert wild durcheinander und zupft an mir herum. Jeder weiß genau, welche handwerkliche Fingerfertigkeit er an mir vollbringen muss. Sie ziehen mich auf einen Stuhl und ehe ich auch nur einen Mucks von mir geben kann, stauben weiche Borsten eines großen Pinsels mein Gesicht ab und kitzeln mir die Nase. Eine Hand tuscht mir das Augenlid, eine andere toupiert mein Haar, die nächste lackiert meine Fingernägel. Ein bisschen hier, ein wenig dort. Bloß nicht in den Spiegel schauen, wer weiß, was dabei herauskommt. Können die mich nicht lassen, wie ich bin? Was ist gegen mein Aussehen einzuwenden? Ist doch ganz okay.
Die Stöckelschuhlady hetzt zurück ins Zimmer.
„Beeilt euch, Leute, die Zeit drängt! Seid ihr noch nicht mit ihr fertig?“
Genau, was macht ihr da so lange mit mir? Die tun ja so, als bräuchte ich eine Komplettüberholung. Jetzt schmier’n die mir auch noch Lippenstift um den Schnabel. Bäh!
Ich werde aufgefordert, in den Spiegel zu schauen. Die Instandsetzung scheint beendet. Weshalb sehen die mich alle so entzückt an wie eine Mutter ihr Neugeborenes? Himmelherrgott, was haben die aus mir gemacht?! Staunend schaue ich mit weit geöffnetem Mund in den Spiegel. Gut, ich gebe zu, nicht schlecht. Aber … wo bin ich? Ich meine I C H!
Die Stöckelschuhe kommen erneut auf mich zu. Sie klappt ihre Hände auf ihr Gesicht.
„Wow, Mädchen, du bist ein richtiges Prachtstück.“
Alles schaut mich an, als wäre ich das beispiellose Meisterstück ihrer Arbeit.
„Komm, nun aber los!“
Stöckelschuhlady packt mich wieder am Arm und zieht mich aus dem Stuhl. Vorsicht, das ist der beschädigte! Könnte ich auch laut sagen, geht aber nicht. Mein Mund ist mit Lippenstift verklebt.
Wir gehen den Flur entlang zu Zimmer 13. Die Tür öffnet sich und – weitere Menschen. Zu viele für meinen Geschmack. Ich wünsche mich auf eine einsame Eisscholle. Klappt leider nicht, nach wie vor bin ich in Zimmer 13.
„Ich hab mich bei dir noch nicht vorgestellt, du kannst Helen zu mir sagen. Ich werde dich den heutigen Tag coachen. Wie ist dein Name gleich?“
„Malina“, antworte ich leise.
„Ach ja, richtig. So, Leute, hört mal her, das ist Malina. Ihr könnt jetzt ein paar Fotos von ihr machen und … wo ist eigentlich Danny?“
„Hier bin ich!“
Der Satz kam aus dem Hinterhalt. Helen und ich drehen uns um und sehen einen, wie ich zugeben muss, äußerst knusprigen Mann durch die Tür kommen mit einer Pizza-Knoblauch-Fahne. Ein Fragezeichen wächst auf meinem Kopf. Danny Greyeyes, die „Pizza-Gestalt“ aus dem Treppenhaus?
„Hey, Malina, wie geht’s?“
Er kommt direkt auf mich zu und streckt seine Arme aus. Ich drehe mich verunsichert um und überprüfe, ob ich für jemand anderen aus dem Weg gehen sollte. Aber da ist niemand – nur ich. Kurz schließt er mich für die Kameras in die Arme. Es blitzt und klickt von allen Seiten. Ein paar Mal lächelt er gekonnt in die Kamera, bevor er sich mäßig unterkühlt von mir abwendet.
Er hat mich nicht erkannt. Wäre mir auch so gegangen, hätte er sich nicht vermutlich jüngst eine Pizza mit einem Extraberg Knoblauch einverleibt.
Ich schaue ihn mir genauer an: Sein schwarzes schulterlanges Haar wird durch die Sonnenbrille auf seinem Kopf gebändigt. Die Jeans betont sein knackiges Hinterteil, während das blaue Oberhemd lässig über der Hose hängt. Seine Augen scheinen dunkel wie das Treppenhaus zu sein, in dem wir uns verknotet hatten. Er ist eindeutig indianischer Abstammung. Ist das der Grund, warum Lucy mich für dieses Treffen bestimmte?
Er flüstert „Stöckelschuh-Helen“ etwas zu – zweifellos nichts Erfreuliches. Man könnte meinen, er wäre leicht gereizt. Seid mal leiser da im Hintergrund, ich würde gern was verstehen! Angestrengt versuche ich, von den Lippen abzulesen: Das hätte „keinen Bock“ heißen können. Geht mir auch so. Na, dann kann ich ja jetzt gehen. Entschuldigung, wo ist hier der Ausgang? Ich habe auch keinen Bock. Vorsichtig schleiche ich zur Tür und drehe mich unauffällig dabei nach allen Seiten um. Keiner achtet auf mich, alles schaut ausschließlich zu Mr. Greyeyes. Gleich habe ich die Tür erreicht, dann bin ich wieder frei.
„Halt, wo willst du hin?“
Helen hat mich entdeckt und sich sofort von Danny losgelöst. Wie viele Augen hat diese Frau?
„Kümmert ihr euch bitte um Malina, die ersten Fotos können von ihr gemacht werden.“
Danny schaut zu mir herüber und mustert mich von oben bis unten. Ich versuche, diesem Blick auszuweichen und an eine Eisscholle zu denken. Aber selbst das Männchen, welches sich gerade mit einem großen Hüftschwung auf mich zubewegt, kann mich nicht vor diesem Blick retten. Kann Mr. Greyeyes nicht woanders hinsehen? Achte nicht auf ihn, denk an einen weißblauen Eisberg, der gerade still und friedlich an dir vorbeizieht. Das Männchen platziert mich auf einen kalten Stuhl vor einer Leinwand. Danny schaut nicht mehr, puh!
„Aaach, deine Wimperntusche krümelt“, entrüstet sich das Männchen in einem viel zu femininen Tonfall. Es wackelt händefuchtelnd davon, um mit einem weichen Tuch zurückzukommen.
„So, Malinachen, dann streck mir mal dein Näschen entgegen!“
Artig tue ich, was es sagt. Es wimmelt hier nur so von Verrückten. Ich muss aufpassen, dass ich hier heil wieder rauskomme.
Von allen Seiten bekomme ich Anweisungen, wie ich mich auf meinem Stuhl zu platzieren habe. Den Kopf nach oben, den Kopf nach unten, den Rücken gerade, die Haare zur Seite und dann wieder zur anderen Seite. Klick. Blitz. Blitz. Klick. Blitz. Die Arme in die Hüfte, das Haar nun nach hinten. Blitz. Klick. Blitz. Blitz. Und erneut lächeln. Blitz. Blitz.
Ich denke an meine Eltern. Es wird Zeit, dass ich mich bei ihnen melde – sie fehlen mir. Mein Bruder lebt ebenfalls in New York, doch wir haben keinen regelmäßigen Kontakt. Er vagabundiert von einem Stadtteil zum nächsten und studiert seit Jahren immer was Neues. Ich will mich eben nicht festlegen, hatte er mir mal geantwortet, als ich ihn sorgenvoll daraufhin ansprach.
„Malinalein, sieh bitte in die Kamera!“, rügt mich das Männchen.
Mein Blick wandert zu Danny Greyeyes. Er hält sich am anderen Ende des Raumes auf, umringt von einigen Leuten. Was war das bloß für eine komische zweite Begegnung mit ihm? Er hält wohl nicht viel von seinen Fans. Gut, ich bin kein Fan, aber man sieht’s mir ja nicht an, oder doch?
„Hier ist das Vögelchen, hierher, huhu!“
Ich weiß gar nicht, in welche Linse ich zuerst schauen soll. Es blitzt von allen Seiten.
„Mäuschen, wenn du für eine Kamera posierst, musst du auch hineinsehen.“
Eine?
„Fotomodel zu sein bedeutet, mitzudenken, mitzufühlen und völlig bei der Sache zu sein, Schätzchen.“
Verständnislos schüttelt das Männchen mit dem Kopf.
„Aber ich bin kein Fotomodel“, protestiere ich.
„Ach, Kleines, sicher bist du eins – ab jetzt jedenfalls. Glaubst du etwa im Ernst, ich lasse ein Gesicht wie deines wieder gehen? Ich heiße übrigens Charles, meine Freunde nennen mich Charly.“
Das Männchen reicht mir seine zarte Hand.
Model – ich! Was für eine abstruse Vorstellung! Wo ist meine Eisscholle?
„So, Leute ...“, „Stöckel-Helen“ klatscht ein paar Mal in die Hände, um für Ruhe zu sorgen, „... nun machen wir ein paar Aufnahmen mit den beiden zusammen. Danny, kommst du bitte!“
Danny Greyeyes schaut durch den Menschenkreis, der ihn umringt, hindurch und zieht angestrengt eine Augenbraue nach oben.
„Okay, Chef, bin schon da.“
Er begibt sich zu mir und stellt sich direkt neben mich. Gemeinsam blinzeln wir in die Kameras, mal in die eine, dann in die andere. Dannys Hand umgreift meine Schulter. Blitz. Blitz. Klick.
„Schaut euch mal in die Augen!“, fordert Charly uns auf.
Ich würde ehrlich gesagt lieber gehen. Danke, war nett. In seine Augen sehen, wie soll das gehen? Ich bin schon aufgeregt genug und schaffe es lediglich, meinen Kopf in aufrechter Position zu halten. Ansonsten bin ich steif wie der Dielenboden in diesem Raum. Schon mal versucht, einen steifen Hals zu bewegen? Da passiert einfach nichts, egal, wie sehr man sich bemüht. Mr. Greyeyes schaut mich bereits an, das kann ich spüren, aber mein Kopf bewegt sich nicht.
„Malinchen, nun stell dich nicht so an! Sieh deinem Schwarm endlich in die Augen!“
Schwarm? Könnte mein Schwarm eventuell die Hand von meiner Schulter nehmen? Vielleicht gelingt es mir dann, mit meinem Oberkörper herumzuschwingen. Hand ruht nach wie vor auf Schulter.
„Malina, Schätzchen, was ist nun?“
Plötzlich packt mich Danny Greyeyes an den Schultern und dreht mich zu sich herum.
Danke, von allein wäre mir das nie gelungen. Erstarrt blicke ich von einem Browneye ins andere. Hin, her – kann mich für keines entscheiden. Dieser Blick! Mir läuft es heiß und kalt den Rücken hinab. Sein Mund verformt sich zu einem unergründlichen Lächeln. Ich kann nicht lächeln, immer noch bin ich versteinert. Ein Glas Wasser könnte jetzt nützlich sein. Mir ist so anders. Ich spüre, wie sich mein leerer Magen schmerzlich zusammenzieht. Er wird sich doch hoffentlich nicht selbst verdauen? Es war wohl keine gute Idee, heute nicht zu frühstücken und das Mittagessen auch gleich wegzulassen.
„Lächeln, ihr beiden“, Charly ist schonungslos.
Klick. Blitz. Klick. Blitz.
„Danny, leg deine Arme um Malinas Hüften und schaue ihr weiter in die Augen, ja?“
Nein, das halt ich nicht aus! Ich lass mich nicht gern von fremden Männern umarmen – auch nicht, wenn sie Greyeyes heißen. Mir wird übel. Wie wäre es mit etwas Essbarem? Oh, was für wunderbare Gebilde tun sich da vor meinem Auge auf! Weiße Schleier schmücken mein Gesichtsfeld mit verschiedensten Mustern und verwandeln sich langsam in Finsternis.
Nach einer Weile erlange ich mein Bewusstsein zurück und nehme aufgeregte Stimmen wahr. Wo bin ich? Woher kommen die unstimmigen Gesänge? Tausende kleiner Feuerameisen krabbeln in meinen Beinen und Armen. Ich öffne die Augen und langsam formt sich ein Bild. Mir schwant, was gerade passiert ist. Als die Sicht endlich klarer wird, erkenne ich das Gesicht mit den Browneyes über mir.
„Sie kommt zu sich.“
„Gott sei Dank!“ Charly drängelt sich dazu. „Kindchen, was machst du für Sachen? Los, was zu trinken, schnell!“
Charly hebt meinen Kopf an und drückt mir das Glas Wasser an den Mund. Die kühle Flüssigkeit rinnt meine Speiseröhre hinab und belebt meine Sinne.
„Wahrscheinlich war alles ein bisschen viel für dich.“ Verständnisvoll streicht Charly mir übers Haar.
Ja, das kann man wohl sagen. Könnte aber auch an meinem hohlen Magen liegen, dass meine Kondition nachlässt.
Ich darf mich einige Zeit auf der Couch ausruhen. Helen hat beschlossen, das Fotoshooting zu beenden und nach einer kleinen Pause zum Interview überzugehen. Vor mir auf dem Tisch liegt ein trockenes Brötchen. Das ist für mich. Magenknurrend hatte ich um einen kleinen Energiespender gebeten und sie haben das halbe Studio – auf der Suche nach Nahrungsmitteln – auf den Kopf gestellt. Einer der Beleuchter hatte noch ein Brötchen in seiner Tasche gefunden. Das gehört jetzt mir. Ich hab zwar keinen Hunger, aber meine Vernunft rät mir, meinen Magen zu befüllen.
Danny hat sich vom Acker gemacht, jedenfalls kann ich ihn unter den vielen Leuten nicht mehr ausmachen. Auch gut, ich hab genauso wenig Interesse an ihm wie er an mir. Was hat er vorhin im Treppenhaus zu mir gesagt? Er hätte nachher noch so ein albernes Treffen mit ’ner Tussi. Die Tussi bin wohl ich.
Das (un-) ersehnte Abendessen
Inzwischen befinde ich mich in Zimmer 9. Das Interview mit der Dame vom Star‑Magazin scheint sich dem Ende zu nähern und meine Frage, was ich hier soll, konnte ich mir nicht beantworten. Bis jetzt wurde ich nicht ein einziges Mal angesprochen. Das Interview findet allein mit Mr. Greyeyes statt. Klar, warum sollte sie mich auch interviewen wollen? In ihren Augen bin ich schließlich ein unbeschriebenes Blatt.
„Miss Bergstroem ...“, erschrocken fahre ich hoch und bin nach dem Abgleiten meiner Gedanken sofort auf Sendung. Mrs. „Star‑Magazin“ spricht mich tatsächlich an.
„... wie lange bereits schwärmen Sie für Danny Greyeyes?“
Ich? Wovon redet sie? Muss ich darauf jetzt antworten?
Helen, die neben mir sitzt, boxt mich in die Seite. Das hilft aber auch nicht weiter. Mir fällt nichts Gescheites auf diese Frage ein.
„Seit einiger Zeit“, höre ich mich antworten.
Mildes Gelächter der anwesenden Personen dringt durchs Zimmer.
„Und welche Songs mögen Sie am liebsten, Miss Bergstroem?“
Luuuuucyyyyy! In was hast du mich hier reinmanövriert?! Wie hießen diese dämlichen Songs noch mal? Ich hatte sie auswendig gelernt – jedenfalls einige. Ehrenwort! Aber jetzt … Sie fallen mir nicht mehr ein, sind aus meinem Kopf verschwunden.
Danny Greyeyes schaut aufmerksam zu mir herüber.
„Alle“, antworte ich mechanisch.
„Ah ja, sie sind wirklich ein eingefleischter Fan, nicht wahr?!
„Ähm, sicher.“
Vielleicht sollte ich über dieses Erlebnis ein Buch schreiben, mit dem Titel: „Meine Freundin Lucy wirft mich den Wölfen zum Fraß vor“.
„Also gut, dann wäre ich mit meinem Interview fast am Ende. Haben Sie noch Fragen an Danny, Miss Bergstroem?“
Mrs. „Star-Magazin“ zwinkert mir zu, als wollte sie sagen: „So, Mädel, das ist deine Gelegenheit. Frag ihn alles, was du schon immer von ihm wissen wolltest!“ Trotzdem hab ich keine Fragen. Will nur noch weg.
Ich schüttle mit dem Kopf.
Kurz darauf sitze ich in Zimmer 3. Helen plant mit Adam Fox, der inzwischen dazugestoßen ist, das intime Abendessen mit mir und Dannys „Brown eyes“. Charly sitzt neben mir und versucht, mir einen Fotomodelvertrag aufzuschwatzen.
„Schätzchen, ich biete dir die Chance deines Lebens. Dein Gesicht muss auf alle Titelblätter und du weißt das.“
Ich weiß von nichts.
Danny steht plötzlich im Türrahmen. Er sieht zu uns herüber und verdreht die Augen.
Was soll das heißen? Mit welcher Berechtigung tut er das? Ich finde es auch nicht wirklich toll, mit ihm essen zu müssen, höchstens mein Magen womöglich, aber ich bestimmt nicht. Deshalb muss er nicht so geringschätzig zu mir herübersehen. Endlich marschiert er ab und schon fühle ich mich befreiter.
„Hier unten musst du unterschreiben, dann können wir gleich nächste Woche loslegen. Was sagst du, Kleines?“
„Tut mir leid, aber das ist nichts für mich“, antworte ich ihm tonlos.
„Du lehnst ab? Helen, hast du das mitbekommen? Das Mädchen lehnt es ab, von mir fotografiert zu werden.“
Helen blickt überrascht zu mir.
„Kind, weißt du, wie viele Mädchen davon träumen?“, macht sie mir klar. „Man erhält bloß einmal im Leben eine solche Chance. Du hättest unerschöpfliche Möglichkeiten und finanziell würde sich einiges für dich ändern.“
„Es mangelt mir nicht an Geld und ich träume von anderen Dingen. Trotzdem vielen Dank für das Angebot.“
Mr. Adam Fox lacht.
„Was für eine ungewöhnliche Entscheidung, Miss Bergstroem. Sie sind wahrscheinlich die einzige Frau auf diesem Globus, die den Mut hat, ein solches Angebot auszuschlagen. Darf ich fragen, weshalb?“
Ich bin selbst beeindruckt. Zum ersten Mal habe ich mir nichts aufzwängen lassen. Lucy wäre stolz auf mich. Wie ist mir das gelungen?
„Weshalb sind Sie Manager geworden und nicht Automechaniker?“
Meine Gegenfrage scheint ihm als Antwort zu genügen. Er lächelt mich an und nickt.
Ich atme tief durch. Wenn doch alles schon vorbei wäre, mit so viel Trubel um meine Person kann ich nicht umgehen.
Auf der Fahrt zum Restaurant sitze ich Danny Greyeyes ohne Modelvertrag in der Stretchlimousine gegenüber. Er unterhält sich angeregt mit dem Kameramann und einem Fotografen, während Helen ununterbrochen telefoniert. Wie sehr sehne ich mich nach friedvoller Stille. Ich stelle mir eine verschneite Landschaft vor. Sachte rieselt der Schnee auf den Boden und dämpft jedes Geräusch ins Nichts hinein. Leider dringt dieses chaotische Unterhaltungsdurcheinander immer noch in meinen jungfräulichen Gehörgang. Das pausenlose Blitzlichtgewitter des Fotoapparates hindert die Farbstäbchen in meinen Augen, ihre Arbeit zu verrichten. Ich sehe schwarze Flecken in meinem Gesichtsfeld. Die Videokamera zeichnet ununterbrochen auf.
Gleich werden wir an irgendeinem Nobellokal halten, in dem das intime Abendessen mit Danny stattfinden wird. Wahrscheinlich bekomme ich keinen Bissen runter. Wie soll das auch gelingen, wenn ich meinen Mund vor lauter Aufregung nicht mal zum Sprechen öffnen kann? Meine Hände können besser reden als ich. Alles, was ich zu sagen habe, schreibe ich auf. Meine Bücher sind praktisch meine Stimme.
Mein Verleger hat dies sofort erkannt. Als ich ihm mit meinem ersten Manuskript gegenübersaß und ihm absolut nichts zu sagen hatte – denn es stand ja alles über mich in diesem Buch – lachte er nur und nickte zustimmend. Wir haben die Zusammenarbeit nie bereut. Ich schreibe, er verlegt, die Menschen kaufen. Reden müssen wir kaum miteinander, die Schecks erhalte ich per Post. Damit bin ich zufrieden. Ich käme auch wortlos zurecht, aber die Gesellschaft ist nun mal auf Kommunikation ausgelegt. Beim Bäcker, am Ticketschalter, beim Friseur – überall muss man was sagen.
Interessiert mustere ich Danny Greyeyes’ Gesicht. Es bilden sich sympathische Falten um seine faszinierenden braunen Augen, wenn er lacht. Auf der Stirn graben sich ein paar Grübchen zwischen den Augenbrauen in die Haut hinein. Er besitzt ein Mienenspiel, das ihm einen charakterfesten Ausdruck verleiht. Ich schätze ihn auf Mitte dreißig, dabei hatte ich ihn mir jünger vorgestellt.
Kurz nachdem der Wagen sein Ziel erreicht hat, hechtet alles aus dem Gefährt. Mir bleibt es unweigerlich vorbehalten, zum Schluss auszusteigen. Der Kameramann hilft mir mit einem breiten Grinsen aus dem Sitz in seinen kameralosen Arm hinein. War das jetzt ’ne Anmache? Mir kommen seine zahllosen lüsternen Blicke im Wagen in Erinnerung. Ich hatte sie taktvoll übersehen. Danny Greyeyes sieht mit einem scharfsichtigen Stirngrübchenblick herüber. Hastig arbeite ich mich aus dem anzüglichen Arm heraus.
Das Restaurant, vor dem wir stehen, wirkt auf mich recht vornehm. Die Preise der Speisekarte übersteigen wahrscheinlich die Höhe des Eifelturmes, falls es überhaupt eine Speisekarte gibt.
Helen wendet sich mir zu.
„Komm mal zu mir, Kindchen!“
Brav tue ich, was sie sagt.
„Der Inhaber des Lokals ist bereits informiert, dass wir noch letzte Aufnahmen von euch am Tisch machen. Danach verschwinden wir und überlassen euch eurem Schicksal, ha, ha, ha.“
Ich komme mir blöd vor. Danny geht es augenscheinlich nicht anders. Seine Stirngrübchen werden tiefer und sein Blick senkt sich müde zu Boden. Er vergräbt die Hände locker in seinen Hosentaschen und geht vor mir durch die Tür.
Der vorbereitete Tisch befindet sich in einer lauschigen Ecke. Der Fotograf knipst wie wild drauflos. Nein, Mr. Danny Greyeyes besitzt nicht die Höflichkeit, mir meinen Stuhl zurechtzurücken. Er setzt sich wortlos an den Tisch und schaut sich um. Zwei Gläser Champagner werden serviert und die Kerzen angezündet. Helen bittet uns, freundlich in die Kameras zu schauen.
Ich gebe zu, das Treffen ist wirklich albern, Mr. Greyeyes, aber die „Tussi“ Malina kann gar nichts dafür. Dieser Zirkus, der hier veranstaltet wird, ist schließlich nicht auf ihrem Mist gewachsen. Danny ist bedauernswert, wie kann man freiwillig ein Star sein wollen?
Endlich, der Rummel um uns legt sich. Das Kamerateam und Helen verlassen nach einer kurzen Verabschiedung und einem vieldeutigen Augenzwinkern das Lokal. Meine Füße kippeln unauffällig im gleichmäßigen Takt. Wie soll ich ein Gespräch mit jemandem beginnen, für den ich bis jetzt Luft war? Mein Unbehagen, das enorm anwächst, wenn ich Unterhaltungen mit mir unbekannten Personen führen muss, lässt mich chronisch verstummen.
Danny Greyeyes macht den Anfang.
„So, die hätten wir vom Hals.“
Ich nicke beipflichtend.
„War wohl ein aufregender Tag für dich. Erlebst du sicher nicht alle Tage, nicht wahr?“
Nicke erneut.
Sollte ich auch mal was sagen?
Die Vorspeise wird serviert – glücklicherweise –, dann fällt meine Schweigsamkeit bestimmt nicht so auf. Wir greifen gemeinsam nach dem Brot und unsere Hände treffen sich im Brotkorb. Peinlich berührt ziehe ich meine Hand sofort zurück.
„Aber nein, bitte schön!“ Danny hält mir den Korb unter die Nase. Zaghaft nehme ich mir ein Stück Brot heraus. „Erzähl mal, was machst du so?“
Diese Frage wird mir gestellt? Wäre das als „eingefleischter Fan“ nicht mein Part gewesen? Ich glaube kaum, dass ein Rockstar sich für mein Leben interessiert, vor allem nicht, wenn es sich die meiste Zeit in einem weit entfernten, einsamen Land wie Grönland abgespielt hat.
Ich würde ja gern was erzählen, nur was? Was mach ich denn so? Bücher schreiben und Völkerkunde betreiben. Na ja, ein Interview habe ich auch schon gegeben. Da wurde ich aber über meine Bücher befragt und wusste im Vorfelde genau, was ich zu antworten hatte. Jetzt soll ich einen Vortrag darüber halten, was ich so mache. Für die Antwort bräuchte ich mehr Vorbereitungszeit. Ich müsste mir vorab ein paar Notizen machen und jedes Wort wohlüberlegt ausarbeiten. Aus dem Stegreif kann ich doch kein Referat über mich selbst halten.
„Redest wohl nicht gern. Na macht nix, ich hab auch nichts dagegen, wenn wir diesen Blödsinn schnell über die Bühne bringen. Mein Manager meinte, mir könnte mehr Publicity nicht schaden. Darum dieser ganze Rummel heute.“
Aha!
„Und offenbar profitierst du ebenso davon – hast gleich einen Fotomodelvertrag unterschrieben. Gratuliere dir! Könnte was draus werden. Siehst ja nicht übel aus.“
Danke.
Das Hauptgericht wird serviert. Ich würde gern etwas richtigstellen, doch möchte ich seinen Redefluss nicht unterbrechen.
„Du legst wahrlich ein stattliches Tempo vor. In der Vergangenheit hat fast jede meiner Freundinnen nach wenigen Wochen einen Werbevertrag oder eine kleine Filmrolle in der Tasche gehabt. Dir reichen wenige Stunden in den Gebäuden meiner Plattenfirma, ohne dass wir uns kennen. Ihr Frauen seid erstaunlich; wenn ihr mit eurem Kopf nichts erreichen könnt, dann auf andere Weise oder – na ja … no comment!“
Die Zündschnur einer Sprengladung in meinem Bauch wurde ausgelöst. Um eine Explosion zu vermeiden, erwäge ich zu gehen.
„Ich benötige nicht die Hilfe anderer Leute, um aus meinem Leben etwas zu machen“, höre ich mich pikiert dementieren.
Danny schaut auf und kräuselt seine Stirnfalten, welche die darunterliegenden Stirngrübchen zwischen seinen Augenbrauen vertiefen.
„Da wärst du aber die erste Frau, die mir über den Weg läuft, die so denkt. Meine Erfahrungen sind andere. Ich konnte mir nie sicher sein, ob eine Frau etwas von mir oder meinem Geld und Ruhm wollte. So ist das in meinem Geschäft: Lug und Betrug.“
„Warum fängst du nicht von vorne an und beginnst irgendwo ein anderes Leben, wo dich niemand kennt?“, frage ich.
Mit einem zynischen Lachen sieht er mich verständnislos an.
„Wie herrlich naiv du bist. Offensichtlich weißt du nicht viel vom Leben. Bist ja gerade mal ein halbes Küken.“
Gekränkt horche ich auf. Naivität ist ein Wort, das meinen Charakter keineswegs richtig beschreibt. Wie kommt er darauf? Lebenserfahrungen hängen meiner Ansicht nach von der Menge der Erfahrungen ab und sind nicht unbedingt proportional zum Lebensalter zu sehen.
„Glaub mir, es spielt keine Rolle, wohin du gehst, es holt dich überall ein. Kein Ort ist sicher vor dem Leben, das dir bestimmt ist“, sinniert er mit einem Mal vor sich hin. „Du bist wahrscheinlich das Nesthäkchen in deiner Familie, bist wohlbehütet aufgewachsen, viele Freunde und Konsum.“
Wo holt er diese Informationen jetzt her? Hab ich eine Schriftrolle auf der Stirn kleben?
„Warte, lass mich raten – du ziehst gern mit deinem Freundeskreis um die Häuser, stimmt’s?“
Erstaunt darüber, woher er diese spekulativen Erkenntnisse über mich gewinnt, kratze ich mich nachdenklich am Kopf. Gern hätte ich meine Persönlichkeit ins rechte Licht gerückt, aber der Gedanke, ein unüberlegtes „Nein, das stimmt überhaupt nicht!“ von mir zu geben, ist mir zu simpel und hätte sein falsches Bild über mich sicher nicht revidiert.
„Ich hab also Recht. Ist schon okay, die meisten Mädchen deines Alters führen ein argloses Leben und interessieren sich nur für ihr Aussehen.“
Unsere Teller werden abgeräumt und der Champagner wird nachgeschenkt, daher wird Danny Greyeyes in seinen Äußerungen gestoppt. Kurzzeitig überlege ich, lautstark zu widersprechen, aber warum sollte ich ihn daran hindern, so über mich zu denken? Nie hätte ich gedacht, dass ausgerechnet eine stille Person wie ich für eine wilde Partymaus gehalten werden könnte. Hat irgendwie auch was.
Als der Kellner sich vom Tisch entfernt, versuche ich schließlich doch, meine Chance auf Dementis zu nutzen. Ich hole tief Luft, aber Danny ist schneller.
„Weshalb bist du vorhin im Studio eigentlich umgefallen? Na ja, du wärst nicht das erste Mädel, das bewusstlos wird, bloß weil ich vorbeilaufe. Ich verstehe euch Frauen nicht. Es wäre schön, mal auf eine zu treffen, die anders ist.“
Tatsächlich warst nicht du der Grund, sondern mein Magen ...
„Möglicherweise liegt es an dir und nicht an den Frauen, dass du regelmäßig an die gleichen gerätst.“
Ich klopfe mir innerlich auf die Schulter über meinen gewagten Vorstoß in diese bisher recht einseitige Diskussion.
„Wie soll ich das denn verstehen?“, fragt er brüskiert.
„Vielleicht siehst du nur das, was du erwartest.“
Danny Greyeyes lehnt sich weiter vor. Die unerwartete Nähe zu seinem Gesicht ist mir unangenehm, daher rücke ich nach hinten.
Bevor er etwas erwidern kann, wird das Dessert serviert. Erfreut greife ich danach. Diese Redepause muss überbrückt werden, also schlinge ich die Nahrung hastig in mich hinein.
Als wir wieder allein sind, schüttelt Danny heftig den Kopf.
„Du machst mir Spaß, gerade mal den Windeln entsprungen und schon mit altklugen Bemerkungen jonglieren, deren Bedeutung du nicht verstehst.“
Das Dessert plumpst schwer in meinen Magen. Hab’s wohl zu rasant geschluckt und das Kauen vergessen. Oder drückt seine respektlose Bemerkung über meinen Sachverstand in Lebensfragen auf meine Magenwände?
„Wie alt bist du, Mädchen?“
Mädchen! Ich weiß ja, dass ich jugendlicher auf andere wirke, aber die Mädchenzeit ist leider vorbei.
„Achtundzwanzig“, gebe ich wahrheitsgemäß zur Antwort.
Ein Lächeln, bei dem sich nur sein linker Mundwinkel nach oben zieht, lässt erahnen, dass er mir nicht glaubt. Hätte ich neunzehn sagen sollen?
„Ist schon okay, du brauchst mir dein wahres Alter nicht verraten.“
Ich finde es durchaus charmant, für so jung gehalten zu werden, aber offensichtlich schätzt er die Reife des Charakters nach dem Lebensalter ein. Falls er mich demnach für neunzehn hält, dürfte ich in seinen Augen nicht viel davon besitzen.
„Wie alt bist du denn?“, frage ich ihn missgestimmt. Meine Stimme hat ein ungeahntes Volumen erreicht und überschlägt sich in der Tonhöhe. „Nein, lass mich raten, vermutlich bereits über sechzig. Offensichtlich kannst du aus einem Lebenserfahrungsschatz schöpfen, von dem andere bloß träumen. Liege ich richtig?“
Mein schnippischer Tonfall ist mir neu. Mir war nicht bewusst, dass ich das kann.
Er verschränkt seine Arme und sieht mich durch zusammengekniffene Augen an ...
© Copyright 2024 Sabine Richling